Wegweisende Konzepte zur individualisierten Behandlung älterer KrebspatientInnen
Drei Publikationen in renommierten Fachzeitschriften reflektieren die wissenschaftliche Tätigkeit von Prof. Reinhard Stauder in der maßgeschneiderten Betreuung älterer KrebspatientInnen.
Die systematische Erfassung und Bewertung alters-, geschlechts- und gender-spezifischer Faktoren bei dieser ständig wachsenden PatientInnengruppe, die Optimierung von Risikoabschätzung und Therapieplanung bei Älteren mit Myelodysplastischem Syndrom (MDS) anhand eines solchen „Assessment" und ein neues, im hämatologischen Fachjournal „Blood" veröffentlichtes, Prognosemodell bei MDS bilden die thematischen Schwerpunkte der Publikationen.
Rund die Hälfte der neu diagnostizierten KrebspatientInnen in Tirol ist älter als 70 Jahre, Tendenz steigend. „Krebs ist eine typische Alterserkrankung, wodurch die Zahl der Betroffenen auf Grund der zunehmenden Lebenserwartung massiv wächst", erklärt ao.Univ.-Prof. Dr.med.univ. Reinhard Stauder MSc, Leiter der Programmdirektion „Geriatrische Onkologie" der Univ.-Klinik für Innere Medizin V. „Insbesondere bei älteren KrebspatientInnen ist es eine besondere Herausforderung, eine individualisierte Therapieplanung zu ermöglichen", erläutert Stauder. Faktoren wie Komorbiditäten, funktionale Aktivitäten, die soziale Versorgung oder auch Gender-Aspekte sollten in holistischer Zusammenschau berücksichtigt werden. Zur systematischen und strukturierten Erfassung der Kapazitäten und Lebensumstände betagter KrebspatientInnen wurde deshalb an der Universitätsklinik Innsbruck das sogenannte geriatrisches Assessment in der Onkologie etabliert und eingeführt. Es bietet die Basis für eine ganzheitliche Einschätzung und medizinische Betreuung. Basierend auf dem Assessmentstatus können konkrete Empfehlungen und Richtlinien für die Therapie verschiedener Krebserkrankungen bei Älteren erstellt werden. Die geriatrische Hämatologie und Onkologie wird im geplanten Schwerpunkt „Geriatrie" und im „Comprehensive Cancer Center" der Medizinischen Universität Innsbruck eine wesentliche Verankerung erfahren.
Dem „multidimensionalen geriatrischen Assessment" und insbesondere der Bedeutung von Alter, Geschlecht und Gender bei der Behandlung von KrebspatientInnen widmet sich eine im Januar dieses Jahres publizierte Pilotstudie, die von Prof. Stauder und den Koautoren Dr. Christine Valentiny von der Univ.-Klinik für Innere Medizin V sowie Priv.-Doz. Dr.rer.nat Georg Kemmler von der Univ.-Klinik für Allgemeine und Sozialpsychiatrie im „Journal of Geriatric Oncology" veröffentlicht wurde. In einer weiteren Publikation, erschienen in der international renommierten Fachzeitschrift „Annals of Hematology", gibt Prof. Stauder Empfehlungen zur maßgeschneiderten Einschätzung und individualisierten Therapie bei Myelodysplastischen Syndromen. MDS stellen einen der Schwerpunkte in Klinik und Forschung an der Abteilung für Hämatologie und Onkologie dar. Der von Stauder geleitete MDS-Schwerpunkt ist eines von nur zwei „Centers of Excellence" der Internationalen MDS-Foundation in Österreich. Beispielgebend für die Entwicklung von Richtlinien hinsichtlich der Therapieplanung bei Krebserkrankungen, illustriert der Spezialist für Blut- und Alternsforschung in dem Fachartikel die wegweisende Bedeutung des multidimensionalen geriatrischen Assessments in der klinischen Therapieentscheidung. Die dritte Arbeit ist in Kooperation mit dem internationalen IWG-Konsortium (International Working Group) entstanden und definiert den neuen Prognosescore IPSS-R als Goldstandard in der Risikoeinschätzung bei MDS. Auch dieser Score wird die Therapieplanung bei älteren KrebspatientInnen wesentlich erleichtern.
Multidimensionales geriatrisches Assessment
„Die Gesamtsituation bei älteren KrebspatientInnen sollte in ihrer Komplexität erkannt und strukturiert erfasst werden", so Stauder, der auch Gründer und Präsident des Vereins „Senioren-Krebshilfe" ist. Als Beispiel nennt er kognitive Einschränkungen. Gerade bei neueren Chemotherapeutika ist die Compliance besonders wichtig. Vergisst ein älterer Krebspatient die Einnahme von Chemotherapeutika über mehrere Tage und nimmt dann mehrere Tabletten zugleich, kann das gefährliche Konsequenzen haben. Neben der Kognition sind es fünf weitere Dimensionen, die beim geriatrischen Assessment erfasst werden: Komorbiditäten, Ernährungszustand, funktionale Aktivitäten, gesundheitsbezogene Lebensqualität und soziale Versorgung. „Sämtliche Aspekte fügen sich wie Mosaiksteine zu einem Gesamtbild zusammen", wie der Onkologe unterstreicht. „Es geht nicht darum, nur den Tumor zu behandeln, ich muss das Ganze, ich muss den Menschen sehen", führt Stauder aus.
Einzelne Dimensionen und Gender-Effekte
Die einzelnen Dimensionen beim geriatrischen Assessment wurden anhand einer Kohorte gut charakterisierter älterer TumorpatientInnen evaluiert. „Bemerkenswert ist zum Beispiel, dass die soziale Versorgung unserer KrebspatientInnen laut unseren Erhebungen relativ gut ist", so Stauder. Ein weiterer Aspekt, unter dem die Daten analysiert wurden, waren gender-spezifische Unterschiede in den diversen Dimensionen. So bestätigte sich etwa, dass bei den sogenannten „funktionalen Aktivitäten", die Voraussetzung für ein Leben in Autonomie sind – vom Kochen über Geldgeschäfte erledigen bis hin zur Selbstorganisation von Hilfe – Frauen im Vergleich zu Männern weniger Defizite zeigen. Beim Assessment werden Schwächen wie auch Stärken der PatientInnen identifiziert. Durch das Aufdecken derselben können gezielt Interventionen veranlasst werden, wie z. B. bei Mangelernährung das Herbeiziehen einer DiätassistentIn und Verschreiben hochkalorischer Nahrung. „Der ältere Krebspatient profitiert somit immer vom Assessment", unterstreicht Stauder.
Vermeiden von Altersdiskriminierung
Auf Grundlage des geriatrischen Assessments hat Prof. Stauder Empfehlungen und Richtlinien für die Behandlung von älteren PatientInnen mit Myelodysplastischen Syndromen erstellt und in einem viel beachteten Artikel veröffentlicht. „In diesem wollte ich zunächst das Bewusstsein stärken, dass auf die altersbezogene Lebenserwartung zu achten ist", verweist der Onkologe auf die Vermeidung jeglicher Altersdiskriminierung. Liegt die durchschnittliche Lebenserwartung ab der Geburt in Tirol derzeit bei 84,0 (Frauen) und 79,1 Jahren (Männer), so beträgt die altersbezogene Lebenserwartung bei Achtzigjährigen immerhin noch 9,5 Jahre bei Frauen und 7,9 Jahre bei Männern. „Mit dieser Perspektive, also unter Berücksichtigung der altersbezogenen Lebenserwartung werden womöglich andere Entscheidungen bezüglich der Sinnhaftigkeit diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen gesetzt", plädiert er für angemessene Intervention.
Score und Therapieempfehlung
Konzeptionell werden die PatientInnen im Assessment in drei Gruppen unterteilt: Die sogenannten „GO-GO" oder „fitteren" Älteren, bei denen sich ähnliche Therapieoptionen wie bei Jüngeren empfehlen. Dann die „SLOW-GO" mit kompensierbaren Einschränkungen, bei denen individualisierte Therapiemaßnahmen angebracht sind. Und schließlich die „NO-GO" oder gebrechlichen Älteren mit ausgeprägten, irreversiblen Komorbiditäten, bei denen die palliativen, sprich supportiven Maßnahmen im Vordergrund stehen. Ist die Zuordnung zu einer dieser Kategorien ein höchst hilfreiches Entscheidungskriterium, so gilt es natürlich auch, dem Patientenwunsch Rechnung zu tragen, wie Stauder anmerkt. „Letztendlich geht es um eine individualisierte Entscheidungsfindung zum größtmöglichen Wohle des Patienten bzw. der Patientin", so der Onkologe.
Als Repräsentant Österreichs in der „Internationalen Gesellschaft für Geriatrische Onkologie" (SIOG) verweist Stauder nicht zuletzt auf die große Herausforderung für die geriatrische Hämatologie und Onkologie, auf Basis multidimensionaler geriatrischer Assessments konkrete Empfehlungen und Richtlinien für sämtliche Tumorerkrankungen zu erstellen. Ein vielbeachtetes Projekt, welches an der Universitätsklinik nicht nur erstmals in Angriff genommen wurde, sondern auch fortgesetzt wird.
Links:
http://www.haematologie-onkologie.at/de/arbeitsgruppen.html
http://www.senioren-krebshilfe.at
http://www.siog.org (International Society of Geriatric Oncology)
http://www.mds-foundation.org/
http://www.geriatriconcology.net/article/S1879-4068%2811%2900060-9/abstract