Die Geschichte der Psychiatrie im historischen Raum Tirol-Südtirol
Im Rahmen eines dreijährigen Projektes wurde die Geschichte der psychiatrischen Anstalten Hall, Pergine und der Psychiatrischen Klinik Innsbruck rekonstruiert. Die Universitätsklinik für Psychiatrie der Medizinischen Universität Innsbruck, vertreten durch den Ende 2011 emeritierten Univ.-Prof. Dr. Hartmann Hinterhuber, war einer der assoziierten Partner des Projektes. Im Interview erklärt der Mediziner warum die Erkenntnisse dieser Arbeit für ÄrztInnen von Interesse sind.
Ende letzten Jahres präsentierten WissenschaftlerInnen der Universität Innsbruck die Ergebnisse ihres Interreg IV Projektes „Psychiatrische Landschaften. Die Psychiatrie und ihre Patientinnen und Patienten im historischen Raum Tirol – Südtirol von 1830 bis zur Gegenwart". Die InitiatorInnen und LeiterInnen des Projektes, Elisabeth Dietrich-Daum, Hermann Kuprian, Maria Heidegger, Michaela Ralser und Siglinde Clementi wollten mit ihrem MitarbeiterInnenteam dem Mangel an Wissen und dem fehlende Bewusstsein hinsichtlich der Geschichte der Psychiatrie von Tirol, Südtirol und dem Trentino entgegenwirken. Für den emeritierten Prof. Hartmann Hinterhuber trägt das Projekt auch zur Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen bei.
Im Interview erklärt der ehemalige Direktor der Univ.-Klinik für Allgemeine Psychiatrie und Sozialpsychiatrie warum sich auch ÄrztInnen mit Geschichte auseinandersetzten sollten.
Redaktion: Was war genau Ihre Aufgabe bei dem Projekt?
Im Rahmen des transdisziplinären und multiperspektivischen Ansatzes widmete ich mich einerseits der Bearbeitung und Darstellung der psychiatrischen Reformbewegungen in Nord- und Südtirol, die eng mit der sozialpsychiatrischen Ausrichtung der Univ.-Klinik für Psychiatrie der Medizinischen Fakultät der Leopold-Franzens-Universität verknüpft sind. Neben der Darstellung dieser Epoche war mir die Aufarbeitung der abscheulichen nationalsozialistischen Verbrechen an Menschen mit psychischen Erkrankungen und mit einer Behinderung ein großes Anliegen: Dieser Thematik widmete ich das Buch „Ermordet und Vergessen", das bereits 1995 erschienen ist und heute noch große Aktualität besitzt.
Redaktion: Welche Erkenntnisse dieser Projektarbeit sind vor allem für MedizinerInnen von Interesse?
Ich empfehle jedem angehenden Medizinstudierenden und auch allen Ärztinnen und Ärzten die Lektüre des im Rahmen des Projektes entstandenen Buches „Psychiatrische Landeschaften" sehr: Die 180 Jahre währende Geschichte der psychiatrischen Versorgungssysteme in Tirol nördlich und südlich des Brenners weist einerseits auf den selbstlosen Einsatz vieler Menschen hin, die sich – von der Gesellschaft nicht bedankt und unter schlechtesten Bedingungen arbeitend – dem Wohl von psychisch Kranken gewidmet haben, andererseits wird die Hilflosigkeit der vorwissenschaftlichen Psychiatrie den psychischen Erkrankungen gegenüber in erschreckenden Bildern ersichtlich.
Redaktion: Haben die Erkenntnisse auch Auswirkungen auf die jetzige Arbeit mit PatientInnen?
Jeder in der Psychiatrie Tätige muss die Geschichte seines Faches in den Grundzügen kennen. Er muss sich besonders das grauenvolle Kapitel der Psychiatrie im Nationalsozialismus vergegenwärtigen. Die Beschäftigung mit der Geschichte hat aber nur dann einen tieferen Sinn, wenn dadurch ein Mehr an Toleranz und Menschlichkeit, ein Mehr an Verantwortlichkeit und ein Zuwachs an Menschenwürde resultiert.
"Von besonderer Bedeutung erscheint mir aber Folgendes: Die Beschäftigung mit der Geschichte muss dazu führen, dass Ärztinnen und Ärzte eine erhöhte Sensibilität und Wachsamkeit politischen Entwicklungen gegenüber aufweisen, um menschenfeindliche Strömungen frühzeitig zu erfassen und dagegen ankämpfen zu können. Wichtig ist vor allem, sich zu vergegenwärtigen, dass besonders die Psychiatrie Gefahr läuft, von politischen Strömungen missbraucht zu werden. Andererseits wurden menschenverachtende sozialdarwinistische Ideen gerade auch von ÄrztInnen entwickelt." |
Hintergrund: Die Ergebnisse des Projektes „Psychiatrische Landschaften"
Die interdisziplinäre Zusammenarbeit von MedizinerInnen, Pflegekräften, HistorikerInnen und PädagogInnen hat die Realisierung von fünf Projektzielen ermöglicht. Die nachhaltigste Wirkung könnte durch die Einrichtung eines Lern- und Gedenkortes im Historischen Archiv des Landeskrankenhauses in Hall erzielt werden. Geplant ist die Umsetzung in vier bis fünf Jahren im Haus 1 des Psychiatrischen Krankenhauses des Landes Tirol. Ein weiteres wesentliches Projektergebnis ist auch die Ausstellung: „Ich lasse mich nicht länger für einen Narren halten". Sie ist noch bis zum 29. Februar 2012 im Zentrum für Alte Kulturen der Universität Innsbruck zu sehen. Ausgehend von Krankenakten und Fallgeschichten wird die medizinische Behandlung ebenso wie das Alltagsleben in der Psychiatrie dargestellt. Außerdem ist im Rahmen des Projektes der Lehr- und Lernfilm „Die (un)sichtbare Arbeit. Zur Geschichte der psychiatrischen Pflege im historischen Tirol von 1830 bis zur Gegenwart" / "Lavoro [in]visibile. La storia dell'assistenza psichiatrica nel Tirolo storico dal 1830 a oggi" entstanden. Der Film behandelt die psychiatrische Pflegegeschichte und erschließt das Thema für Unterrichts- und Fortbildungszwecke im Bereich der Gesundheits- und Krankenpflege. Darüber hinaus ist vor kurzem die Publikation in deutscher und italienischer Sprache mit dem Titel „Psychiatrische Landschaften. Die Psychiatrie und ihre Patientinnen und Patienten im historischen Raum Tirol seit 1830" bzw. „Ambienti psichiatrici. La psichiatria e i suoi pazienti nell'area del Tirolo dal 1830 a oggi" erschienen. Die deutsche Ausgabe kann beim Verlag „Innsbrucker University Press" erworben werden. Über die Projektergebnisse informiert außerdem ein umfassendes Themenportal zur Tiroler Psychiatriegeschichte.
(hof)
Links:
Umfassendes Themenportal zur Geschichte der Psychiatrie mit Links zu allen Projektergebnissen
Italienische Version des Themenportals
Department für Psychiatrie und Psychotherapie