Sexualität immer wieder neu interpretiert
Aspekte der Sexualität werden in den medizinischen Alltag oft nur am Rande einbezogen. Zum Ausgleich stand auf der 13. Psychiatrischen Herbsttagung dieses sonst etwas vernachlässigte Thema im Mittelpunkt. Der fast volle Barocksaal des Hotel Europa zeugte vom regen Interesse der großteils aus der Praxis kommenden Besucher. Definitionen, Prognosen, Medikamente kamen dabei ebenso zur Sprache wie die Gesetzeslage und die Arbeit mit Sexualstraftätern und deren Opfern.
Eine auffällige Gemeinsamkeit vieler Beiträge war der Hinweis darauf, wie sehr sogar das so genannte natürliche Geschlecht und erst recht normale bzw. pathologische Sexualität über gesellschaftliche Akzeptanz definiert werden. Homosexualität unter Erwachsenen ist hierzulande erst seit relativ kurzer Zeit nicht mehr strafbar, in den USA differiert die Gesetzeslage stark von Bundesstaat zu Bundesstaat, und Masturbation galt erstaunlich lange als Perversion. Daneben gibt es über Zeiten und Kulturen hinweg gültige Sexualtabus wie etwa für sexuelle Handlungen mit Kindern oder nahen Verwandten.
Prof. Hertha Richter-Appelt von der Abteilung für Sexualforschung am Univ.-Krankenhaus Hamburg-Eppendorf zeigte in ihrem Beitrag auf, wie sich im Bereich des Transsexualismus die Diagnosen und Behandlungsempfehlungen geändert haben. Stand früher die eindeutige bipolare Zuordnung zu männlich oder weiblich samt medikamentöser und operativer Unterstützung im Vordergrund, so setzt sich heute die Erkenntnis durch, dass es neben den beiden Hauptgeschlechtern eine Vielzahl von Zwischenstufen gibt und die Eigendefinition der betroffenen Person stärker zu berücksichtigen ist. Das setzt auch voraus, dass man einem Kind keine Zuordnung überstülpt und ihm seinen wahren Zustand nicht verschweigt, wie es noch vor wenigen Jahrzehnten durchaus üblich war.
Ein Vortragsblock am Nachmittag widmete sich der Gesetzeslage und der operativen Behandlung von Transsexuellen. Ob und wie sexuelle Störungen medikamentös behandelt werden, unterliegt ebenfalls verschiedenen außermedizinischen Einflüssen, wie z.B. unterschiedlichen Regelungen, was die Krankenkasse zu bezahlen bereit ist.
Sex nur für Junge, Schlanke und Gesunde?
Sexualität ist Teil der Lebensqualität. In ihrem Streben Lebensqualität wiederherzustellen oder zu erhalten schenkt die Medizin der Sexualität jedoch wenig Aufmerksamkeit. Den Stellenwert der Sexualität in Anamnese, Diagnose und Therapieplanung zu erhöhen war deshalb erklärtes Ziel von OA Dr. Regina Prunnlechner und Prof. Johann Kinzl von der Innsbrucker Uniklinik für Psychiatrie bei der Wahl des Themas für die 13. Psychiatrische Herbsttagung, die sie zusammen mit dem Institut für forensische Psychiatrie und Psychotherapie Tirol und der Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie organisierten. Mehrere Vorträge widmeten sich daher der Sexualität im Zusammenhang mit chronischen Beeinträchtigungen durch Krankheit, Adipositas oder Psychopharmaka. Grundsätzlich ist es wichtig für Ärztinnen und Ärzte zu akzeptieren, dass Patienten auch an Sex interessiert sein können, wenn sie alt, krank, behindert oder stark übergewichtig sind und mit ihnen über Sex zu reden. Prof. Wilfried Biebl von der Innsbrucker Uniklinik für Psychiatrie verwies auf die schon in den 1970er Jahren von Jack Annon entwickelte PLISSIT-Methode, die auch von Ärzten angewandt werden kann, die keine Spezialisten für Sexualtherapie sind. P steht für permission: Oft wollen sich Patientinnen und Patienten einfach nur die Versicherung holen, dass ihr Sexualverhalten akzeptabel ist und nicht böse oder pervers. LI steht für limited information, die der Arzt oder die Ärztin den Patienten ganz gezielt zu ihrer vorgebrachten Frage geben. Die nächste Phase in dem Prozess betrifft Vorschläge für spezifische Handlungsschritte (SS specific suggestions) und erst die vierte Stufe (IT intensive therapy) sieht die Überweisung an einen Spezialisten oder eine Spezialistin vor.
Sexualdelikte zwischen Empirie und Wahrnehmung
Der zweite Tag stand ganz im Zeichen der forensischen Medizin. Prof. Norbert Nedopil von der Forensischen Psychiatrie der Universität München zeigte anhand zahlreicher empirischer Daten, dass Sexualstraftaten einen verschwindend kleinen Prozentsatz aller Straftaten ausmachen und entgegen dem subjektiven Gefühl vieler nicht im Zunehmen begriffen sind. Was sich jedoch in den letzten 30 Jahren geändert hat, ist die Berichterstattung, die Sexualstraftaten und Verdächtigungen wesentlich mehr Platz und Aufmerksamkeit einräumt. Auch ist die Rückfallrate bei Sexualdelikten relativ niedrig, die Rückfallgefahr ist jedoch für die Bestimmung des Vollzugsziels entscheidend und die Psychiatrie in ihrer Prognosefähigkeit gefordert. Nedopil bezweifelte die Übertragbarkeit mancher Prognoseinstrumente aus den USA auf hiesige Verhältnisse und empfahl die Methode Static 99, die eine Einteilung in Rückfallrisikokategorien erlaubt. Wie seine österreichischen Kollegen Frottier, Schilling und Stompe sprach er sich für eine möglichst lange Nachbetreuung (Therapieabbrecher sind am meisten rückfallgefährdet) und die Beobachtung von Sexualstraftätern über 10 bis 12 Jahre aus, um Rückfälle zu vermeiden.
Die heftigsten Diskussionen löste erwartungsgemäß der Beitrag von Primar Reinhard Haller vom Krankenhaus Stiftung Maria Ebene in Frastanz aus, der zum Reizthema Pädophilie sprach, das selbst Fachleute emotional stark beschäftigt. Immerhin ein Drittel aller Sexualdelikte fallen unter Kindesmissbrauch. Grundmerkmale sind die Abwehr von Ängsten, die auf Frauen projiziert werden bzw. von Frauen ausgehen und die Regression. Je jünger die Opfer, je länger die Beziehung und je aggressiver die Handlungen, umso pathologischer der Täter. Die Folgen für das Opfer seien, so Haller, unterschiedlich und hingen stark von Alter, Dauer, Gewalt und dem Fehlen oder Vorhandensein eines stützenden Umfelds ab. Dem widersprach Prof. Biebl, der unter seinen Patientinnen und Patienten Opfer mit lebenslangen schweren Schäden feststellt. Primar Haller verwies auf einen gesellschaftlichen Wandel in der Anwendung des Strafrechts. Standen vor 20 oder 30 Jahren noch die Täter und deren Vorgeschichte im Zentrum, so sind es heute die Opfer, wobei ein Teil der Täter als Kinder selbst missbraucht wurden.
Prof. Kinzl meinte in einem ersten Rückblick auf die Tagung, dass die Psychiatrie sich an der gesamtgesellschaftlichen Diskussion über Geschlecht und Sexualität beteiligen und die Medizin Entwicklungen in der Sexualforschung berücksichtigen sollte. OA Dr. Prunnlechner sprach die Hoffnung aus, durch informelle persönliche Zusammenarbeit zwischen Psychiatrie und Medizin dem Thema Sexualität zu adäquater Bedeutung zu verhelfen.
Die Vorträge der 13. Psychiatrischen Herbsttagung werden Anfang 2006 in der Zeitschrift für Neuropsychologie publiziert. Die 14. Psychiatrische Herbsttagung findet vom 20. bis 22. September 2007 statt und widmet sich den Themen Sucht und Terrorismus.