Essstörungen von allen Seiten beleuchtet
Gleich zwei Konferenzen zum Thema Essstörungen fanden vergangene Woche in der Alten Universität statt: Der heuer zum 13. Mal abgehaltene Kongress Essstörungen von ÖGES, Netzwerk Essstörungen und der Medizinuni Innsbruck mit Fokus auf körperorientierte Therapien leitete mit einem internationalen Teaching Day über zum 9th General Meeting des European Council on Eating Disorders (ECED), das zum ersten Mal im deutschsprachigen Raum veranstaltet wurde.
Prof. Günther Rathner als Obmann des Netzwerks Essstörungen, Präsident der österreichischen Gesellschaft für Essstörungen ÖGES und Psychotherapeut an der Klinik für Medizinische Psychologie und Psychotherapie der Medizinischen Universität Innsbruck war heuer organisatorisch sehr gefordert. Der Kongress Essstörungen gehört zu den größten derartigen Veranstaltungen im deutschsprachigen Raum und das ECED-Meeting bringt über 200 Fachleute aus allen Teilen Europas und darüber hinaus zusammen.
Achtsamkeit gegenüber dem Körper
Der erste Tag des deutschsprachigen Kongresses war körperorientierten Therapien gewidmet und gab Expertinnen und Experten aus Österreich, Deutschland, der Schweiz und Belgien Gelegenheit, aus ihrer Praxis zu berichten. Ein zentraler Punkt bei allen derartigen Therapieformen ist die Körperwahrnehmung und die Achtsamkeit im Umgang mit Ernährung und körpereigenen Empfindungen. Die meisten Patientinnen beginnen mit einem sehr negativ besetzten Bild ihres Körpers. Die körperorientierte Therapie versucht mit verschiedenen Interventionen und Bewegungsprogrammen diese Wahrnehmung zu hinterfragen und die Patientinnen zu einer neuen Selbstwahrnehmung hinzuführen. Angewandt werden diese Methoden übrigens sowohl bei Anorexia nervosa als auch bei Bulimia (Ess-Brechsucht), Binge Eating Disorder (Störung mit Essanfällen) und Adipositas (Fettleibigkeit), die offiziell gar keine Essstörung ist.
Ein Kongress für alle, die mit Essstörungen zu tun haben: Betroffene, Angehörige, Experten
Der Kongress richtet sich bewusst an erfahrene ebenso wie noch in Ausbildung befindliche Therapeut/inn/en, Psycholog/inn/en, Mediziner/inn/en, Ernährungsspezialist/inn/en, an Sozialarbeiter/inn/en, Lehrer/inn/en, Patient/inn/en und Angehörige. Daher gab es insgesamt 19 Praxis-Workshops, in denen Vertreter/innen einzelner Kliniken und Zentren nicht nur über ihre Methoden referierten, sondern sie auch anhand einer typischen Übung zum Mitmachen vorstellten. Ihnen folgten wissenschaftliche Beiträge über die Wirkung körperorientierter Therapien, belegt in unterschiedlichen Studien, die zu lebhaften Diskussionen unter den Fachleuten führten. So unterschiedlich die Methoden im Einzelnen auch sein mögen, über einen zentralen Punkt im Umgang mit Essgestörten (meist Mädchen und jungen Frauen) herrschte Einigkeit: sie brauchen sowohl Unterstützung als auch Selbständigkeit und Eigenverantwortung ein schwieriger Spagat für das gesamte Umfeld der Betroffenen.
Parallelsitzungen zu bestimmten Themen oder Blickwinkeln, etwa dem der Betroffenen und ihrer Angehörigen oder zum Körper im Bezug auf Frauen- und Geschlechterrolle sprachen ein breites Publikum an und brachten auch gesellschaftliche Aspekte in die Diskussion. Untersuchungen über die Häufigkeit von Essstörungen und über das Essverhalten von Kindern aller Gewichtsklassen oder die Körperzufriedenheit von nicht klinisch essgestörten Frauen zeigten das erschreckende Ausmaß der Sorge um Gewicht und Körperform in der Gesellschaft insgesamt.
The big picture: ECED Innsbruck 2005
Der britische Soziologe Chris Shilling zeigte zum Auftakt des ECED Innsbruck 2005 Meetings, wie sich der gesellschaftliche Stellenwert und die Regeln des Essens verändert haben. Er ortet zwei Entwicklungen, die Essstörungen begünstigen. Eine ist die fortschreitende Individualisierung, weg vom gemeinsamen Essen, hin zur individuellen Auswahl bei der Nahrungsaufnahme. Die andere ist eine veränderte Einstellung zum Körper. Nahm man ihn bis ins frühe 20. Jahrhundert weitgehend als gegeben hin, so gilt er heute als etwas individuell Formbares, von dem nicht nur ein schlankes Erscheinungsbild, sondern auch Fitness und jederzeitige Verfügbarkeit verlangt werden. Manchmal unterläuft der Körper diesen Forderungskatalog jedoch und wird zum Problem.
Die ECED Konferenz war anders als bei wissenschaftlichen Kongressen üblich - um Debatten zu provokanten Statements herum angeordnet, die für regen Austausch unter den Delegierten aus 28 Ländern, darunter fast alle europäischen Länder, Israel, Japan, Neuseeland, Kanada und den USA sorgten. Bei den wissenschaftlichen Beiträgen ging es neben den bereits angeführten Themen auch um Komorbidität mit Persönlichkeitsstörungen, sowie um den Stellenwert der Familie und die Erfolgsaussichten unterschiedlicher Therapieansätze, inklusive Therapie über das Internet. Erstmals auf einem ECED-Meeting wurden auch europäische Organisationen für Betroffene und ihre Familien, 12 europäische wissenschaftliche Gesellschaften für Essstörungen sowie die sieben derzeit existierenden Essstörungs-Spezialausbildungen für Professionals in Europa vorgestellt. Um die Qualität der Poster-Beiträge zu würdigen, wurde ein Posterwettbewerb abgehalten. In kürzester Form konnten hier wissenschaftliche Arbeiten präsentiert werden. Die Konferenzteilnehmer/inne/n vergaben durch Voting Best Poster Awards. Der erste Preis ging an ein ungarisches Team von der Semmelweis Universität in Budapest, den zweiten Preis teilten sich Martin Kumnig und Dieter Frank vom Institut für Psychologie der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck mit einem schwedischen Team vom Königin Silvia Kinderspital in Göteborg.
Insgesamt besuchten 450 Personen die beiden Kongresse. Prof. Rathner und das Netzwerk Essstörungen werten gerade die Kongress-Evaluationsfragebögen aus, doch kann man schon jetzt sagen, dass beide Kongresse von den Teilnehmer/inn/en sehr gut aufgenommen wurden. Der jährliche Internationale Kongress Essstörungen findet auf jeden Fall nächsten Herbst wieder in Tirol statt.