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Nicht jedeR kann ein "Normalgewicht" erreichen

Mit diesem provokanten Satz umreißt Günther Rathner, Prof. an der Universitätsklinik für Medizinische Psychologie und Psychotherapie und Obmann des Netzwerks Essstörungen, die Veränderungen in der Behandlung von stark unter- oder übergewichtigen Menschen. In seiner eigenen Arbeit und der des Netzwerks geht es vor allem darum, das Selbstwertgefühl und die Körperwahrnehmung der Patientinnen zu verbessern.

Die Doppelform „PatientInnen“ erübrigt sich hier, die überwiegende Mehrheit der Essgestörten ist weiblich und eine große Gruppe davon noch keine 20 Jahre alt. Prof. Rathner sieht gestörtes Essverhalten als ein breites Kontinuum von gezügeltem Essen und dem Ausprobieren von Diäten über Teilsyndrome bis hin zur voll ausgeprägten Magersucht (Anorexia nervosa) oder Ess-Brechsucht (Bulimie). Adipositas (Fettsucht) ist genau genommen keine Essstörung, doch der Leidensdruck für die Betroffenen ist auch hier groß und Hilfe von außen gefragt.

Einstiegsdroge Diät

Prof. Rathner und das Netzwerk Essstörungen sind gegenüber Diäten zur Gewichtsreduktion kritisch eingestellt. Einerseits vereitelt der berüchtigte Jojo-Effekt langfristig das Erreichen des angestrebten „Idealgewichts“, andererseits verleiten Diäten zu unnatürlichem Essverhalten. Mal ist es eine einseitige Ernährung unter Weglassen bestimmter Lebensmittel, mal die penible Kontrolle von Mengen oder Kalorien, die extreme Formen annehmen kann. Doch der Mensch ist von seiner physiologischen Grundlage her ein Allesfresser und solche Methoden führen besonders leicht zu Heißhungerattacken. Das sogenannte Idealgewicht ist ohnehin ein wissenschaftlich unhaltbarer Mythos, der Mitte des 19. Jahrhunderts anhand der Daten von jungen, männlichen Rekruten ermittelt wurde und in vielen Köpfen noch heute herumspukt. Der Realität wesentlich näher kommt der Body Mass Index und auch hier keine bestimmte Zahl, sondern ein Normalbereich (20 – 25), der auch noch leicht über- oder unterschritten werden kann, wenn sich die Person dabei wohlfühlt. Und dieses „sich wohlfühlen im eigenen Körper“ ist es gerade, was heute sehr vielen Menschen, besonders Frauen, fehlt. Auch bei Übergewicht (BMI 25 – 30) hat sich gezeigt, dass ständige Gewichtsschwankungen langfristig ungesünder sind als ein stabiles, wenn auch etwas höheres Gewicht.

Niedrige Schwelle

Bekommt es Prof. Rathner in seiner klinischen Arbeit vor allem mit schweren Fällen von Essstörungen zu tun, so sieht sich das Netzwerk Essstörungen als Anlaufstelle für alle, die unter ihrem Essverhalten leiden und Hilfe suchen. Das Netzwerk hat sich auf Aufklärung und Beratung spezialisiert und vermittelt bei Bedarf seine Klientinnen an behandelnde Stellen wie niedergelassene PsychotherapeutInnen, ErnährungsspezialistInnen, die Klinik für Medizinische Psychologie und Psychotherapie oder andere Kliniken, mit denen es den regelmäßigen Kontakt noch ausbauen möchte. Am Anfang steht ein kostenloses Erstgespräch, dem bei Bedarf vier weitere Gespräche folgen, deren Kostenbeitrag so niedrig gehalten ist, dass Jugendliche es sich vom Taschengeld leisten können. Die Beraterin erfasst die Ausgangssituation der Klientin, gibt Informationen über Heilungsmöglichkeiten und Langzeitfolgen, zieht eventuell eine Ernährungsspezialistin heran und empfiehlt eine ärztliche Untersuchung.

Knackpunkt Motivation

Wer sich einmal aufgerafft und per Telefon, E-Mail oder in Person mit dem Netzwerk Essstörungen Kontakt aufgenommen hat, verfügt bereits über ein Mindestmaß an Problembewusstsein und Motivation. Die Beraterinnen des Netzwerks sind bestrebt, diese Motivation zu vertiefen. Sie thematisieren Körperbildstörungen der Klientin, ermuntern zum Vergleich zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung und helfen, ihr meist stark untergrabenes Selbstwertgefühl zu stärken. Dieser Ansatz funktioniert übrigens trotz der ansonst großen Unterschiede im (Ess)verhalten gleichermaßen bei Magersucht, Ess-Brechsucht und Fettsucht. Und er hilft dabei, sich gegenüber medialen und Werbungseinflüssen zu behaupten, egal ob nun eine gesundheitsschädliche Traumfigur oder ungesundes Fast Food angepriesen wird. Das Netzwerk Essstörungen organisiert außerdem angeleitete Selbsthilfegruppen für Angehörige von Essgestörten und Workshops für LehrerInnen.

Ungelöste Rätsel und gesamtgesellschaftliche Hintergründe

Um den wissenschaftlichen Austausch zu fördern, organisiert das Netzwerk Essstörung alljährlich einen Kongress. Beim heurigen 13. Internationalen Kongress Essstörungen (5.-7. September 2005, Alte Universität) steht körperorientierte Therapie im Mittelpunkt. Prof. Rathner betont, daß diese Tagungen von Anfang an auch für Betroffene und Angehörige zugänglich waren, um den gleichberechtigten Dialog zu fördern. Im Anschluß an diesen Kongress wird der größte europäische Kongress zu Essstörungen – ECED Innsbruck 2005 - ebenfalls in der Alten Universität zu Gast sein (7.-9. September 2005). Zu dieser 9. Hauptversammlung des European Council on Eating Disorders (ECED) werden ExpertInnen aus aller Welt erwartet. Wissenschaftlich zu erforschen gibt es noch viel: Die genauen Ursachen von Essstörungen sind genauso ungeklärt wie die Frage, warum manche Menschen von kalorienreicher Nahrung stärker zunehmen als andere. Zu dem ECED Innsbruck 2005 Meeting ist auch der bekannte britische Soziologe Chris Shilling eingeladen, der sich dem für Essstörungen zentralen Thema Kontrolle und Kontrollverlust aus gesellschaftswissenschaftlicher Sicht nähert.